WIEDERKEHR DER WERTE
Alles ist machbar und
der Fortschritt grenzenlos - das war lange der Tenor in der westlichen Welt. Doch immer
mehr Menschen suchen Spiritualität. "Werte" gewinnen an Bedeutung, berichteten
Experten Martina Salomon.
Sinnsuche
in der Spaßkultur
Ist es wirklich Zufall, dass zurzeit
gerade ein monumentaler Kampf des Guten gegen das Böse über die Kinoleinwände in aller
Welt tobt? Im soeben angelaufenen Epos "Herr der Ringe", das auf einer 40 Jahre
alten Fantasytrilogie von J.R.R. Tolkien beruht, wird die Welt vor profaner Machtgier
gerettet. Und zwar mit den Mitteln aufopferungswilliger Freundschaft sowie individuellen
Mutes.
Damit wäre - mit den Mitteln Hollywoods - in Angriff genommen, was
Konservative vor allem in Deutschland seit geraumer Zeit fordern: Das "Ende der
Spaßgesellschaft". Weil es die soziale Lebensqualität untergräbt, wie der deutsche
Freizeitforscher Horst Opaschowski kritisiert.
Doch so schlecht scheint es um die viel strapazierten "Werte" gar
nicht zu stehen. Eine kürzlich veröffentlichte europäische Wertestudie gibt keinen
Hinweis auf allgemeine moralische Dekadenz. Im Gegenteil. Vermutlich gab es noch nie so
viele Menschen, die sich freiwillig auf die Suche nach dem Glauben begeben, erzählt
"Werteforscher" Christian Friesl. Er spricht sogar von einer
"Sinngesellschaft". Die Kirche könne davon aber nicht profitieren.
"Ich glaube, dass wir gerade eine Respiritualisierung, eine Wiederkehr des
Religiösen im weitesten Sinn erleben", meint auch die Theologin und Juristin
Christine Mann. Sie ist Leiterin des Schulamts der Erzdiözese Wien und bemerkt den Wandel
am eigenen Leib: "Früher war man als Religionsvertreter in Schuldiskussionen
sozusagen der 27. Zwerg. Jetzt wollen plötzliche alle jemanden dabei haben, der für
Werte zuständig ist. Da geht es eben um Qualifikationen für Schüler, die im späteren
Leben nicht mehr nachgebessert werden können." Im Zeitalter der Machbarkeit und des
unbegrenzten Fortschritts ist Orientierung offenbar gefragter denn je.
In der Werbung spiegelt sich die Komplexität der Gesellschaft wider: "Wer
möchten Sie in den nächsten 24 Stunden sein?", lautet die Frage in der Anzeige
einer Schweizer Uhr. Für den Wiener Trendforscher und Soziologen Andreas Reiter ist dies
ein klassisches Beispiel für das vorherrschende Gefühl, alles sei für jeden jederzeit
möglich. Der amerikanische Essayist Steven Waldman spricht deshalb sogar von einer
"Tyrannei der Wahl" - im Supermarkt, bei der Telefongesellschaft, bei der
Partnerwahl. Diese scheinbare Freiheit ist verwirrend und führt dazu, dass traditionelle
Werte wie "Sicherheit" und "Zusammengehörigkeit" an Bedeutung
gewonnen haben. Die Anschläge vom 11. September scheinen diesen Trend noch verstärkt zu
haben.
Somit werden laut Reiter (der seit fünf Jahren ein eigenes
"Zukunftsbüro" betreibt) all jene Produkte besonders gute Zukunftschancen
haben, die mit dem Rückzug in die eigenen vier Wände zu tun haben: Heimwerkerbedarf und
Blumengeschäfte etwa. Bei Jugendlichen ist es schick geworden, gemeinsam zu kochen - die
TV-Reality-Shows haben dieses Ritual aufgenommen, und natürlich auch die Werbung: Im jet
to web-Spot zelebrieren weibliche Skistars das "Erlebnis Kommunikation", in
dem gemeinsam ausgiebig geschnippelt, gerührt und gegessen wird.
Natürlich boomt auch der Markt, der Problemlösung im undurchsichtigen
Dschungel des Lebens verspricht: War es in den Achtzigern die Psychoanalyse, die den
Stadtneurotiker erst komplett gemacht hat, gilt heutzutage ein Coaching, um Berufsziele
besser zu erreichen, als unerlässlich. Abgesehen davon sind Bücher sowie Seminare selbst
ernannter Gurus, die bei der Sinnsuche behilflich sind, ein Renner. In den USA und den
Niederlanden schlagen sogar "Sinn-Agenturen" Kapital aus dem offensichtlich als
schmerzhaft empfundenen Wertevakuum.
Theologin Mann wundert sich darüber nicht: "Bisher haben viele ihren
Lebenssinn aus der Erwerbsarbeit bezogen. Wenn Arbeit ein knappes Gut wird, sucht man den
Sinn anderswo. Ökonomie gilt nicht mehr als Garant für Zusammenhalt unter den
Menschen." Ihre Gegenstrategie: "Der gläubige Mensch weiß, dass er keinen
Schiffbruch erleidet und auch etwas wert ist, selbst wenn er in der Erwerbsgesellschaft
nicht gebraucht wird."
Die Suche nach den wahren Werten spiegelt sich auch im Freizeitverhalten wider:
Der "Klosterurlaub" oder ein mühevoller Pilgergang nach Santiago de Compostella
sind längst nicht nur "Freaks" vorbehalten. Für schwer beschäftigte
Opinion-Leader ist Zeit "das einzige Gut, das eine Rolle spielt", so Reiter.
Dass künftig wieder mehr Ehen geschlossen und Babys gezeugt werden, erwarten
jedoch weder Reiter noch Mann. Der Zug für die traditionelle Familie sei mehr oder
weniger abgefahren, die Patchworkfamilie längst Realität, glaubt zumindest Reiter.
Dennoch nehme die Kommunikation zwischen Familienmitgliedern merkbar zu, wobei das
physische Zusammensein von untergeordneter Bedeutung sei. "Die Großfamilie, die
früher an einem Ort zusammenlebte, hat qualitativ weniger miteinander gesprochen, als
dies unter Familienmitgliedern und Freunden heute der Fall ist." Die viel
verteufelten modernen Kommunikationstechniken wie E-Mail bringen neue Nähe (und helfen
darüber hinaus auch noch, den Partner fürs Leben zu suchen).
Pessimisten, die nach den Anschlägen in New York und Washington das Ende der
"Fun-Kultur" ausriefen, unterstützt Reiter nicht. Sprich: Auch wenn man sich
unter dem Eindruck, dass morgen "alles kaputt" sein könnte, die Frage nach dem
Lebenssinn stellt, ist es kein Widerspruch, weiterhin "After-work-Clubbings" zu
besuchen.
Kardinaltugenden
Laut Mann hat der 11. September viele Grundsatzdiskussionen ausgelöst.
"Weltweit ist der Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Frieden wieder ins
Blickfeld gerückt." Die Theologin erhofft sich eine Wiederkehr von vier
"Kardinaltugenden". Das sind für sie: "Gerechtigkeit", "das
richtige Maß" (etwa was den Umgang mit der Natur betrifft), "Tapferkeit"
(modischer "Zivilcourage" genannt) sowie "Klugheit" (worunter sie
"abwägen und nachfragen" versteht).
Im Tolkienschen Fantasy-spektakel geht es in etwa um diese Eigenschaften. Und
damit lassen sich immerhin die Kräfte der Finsternis in Schach halten.
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